Na, wer von euch weiß, wer Annie Londonderry war? Um ehrlich zu sein, bis vor Kurzem habe ich noch nie von der Frau gehört. Sie war die erste Frau, die den Mut hatte, mit einem Fahrrad um die Welt zufahren. Ich fahre regelmäßig mit meinem Drahtesel zur Arbeit, aber um die Welt damit, lieber nicht. Dennoch finde ich die Idee und das Abenteuer an sich recht interessant. Daher war ich supergespannt auf die Romanbiografie.

In meiner Rezension „Die Radfahrerin: Annie Londonderry“ von Susanna Leonard gewähre ich euch einen Blick auf die Verschmelzung von Wahrheit und Fiktion innerhalb der Romanbiografie


 

Die Radfahrerin: Annie Londonderry von Susanna Leonard
© Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de

Infos zum Buch
erschienen bei Lübbe
Veröffentlicht 31. März 2023
ca. 400 Seiten
erhältlich als Taschenbuch, Hörbuch und eBook
 

Klappentext

Eine bewegende Romanbiographie über die erste Frau, die mit dem Fahrrad die Welt umrundete

Boston, 1894. Annie ist gerade einmal 24, als sie eine schicksalhafte Entscheidung trifft: Sie lässt sich auf die Wette zweier Geschäftsmänner ein, die behaupten, eine Frau würde es niemals schaffen, mit dem Fahrrad die Welt zu umrunden. Annie widerspricht: Was ein Mann kann, kann eine Frau schon lange! Also setzt sie sich auf ihr 19 kg schweres Rad, im Gepäck nur Wechselunterwäsche und einen Revolver, und begibt sich auf das Abenteuer ihres Lebens. Ihre Tour um die Welt schlägt hohe Wellen in der Presse, doch sie birgt auch Gefahren und droht mehrmals zu scheitern. Wird Annie trotzdem Erfolg haben? Wird sie ein Zeichen setzen für alle Frauen, die wie sie von Gleichberechtigung träumen?

© Klappentext: Lübbe

Die Gestaltung des Covers gefällt mir, zumal darauf Annie Londonderry zu sehen ist. Auch die Farbgestaltung ist herrlich schön und es passt zu dieser sehr interessanten Romanbiografie aus der Feder von Susanna Leonard. Auch den Innenaufbau des Buches mag ich. Vorne erwartet mich ein Personenregister, aus dem ersichtlich wird, welche Personen fiktiv oder historisch nicht zweifelsfrei belegt sind, sowie die Persönlichkeiten, die tatsächlich gelebt haben.
Am Ende der Romanbiografie findet sich eine Zeittafel, welche eine komprimierte Übersicht des Lebens von Annie Londonderry ist. Nachfolgend gibt es ein Glossar, welches die Begrifflichkeiten, die zum Zeitgeschehen des Romanes passen, erklärt werden. Die Kirsche auf der Torte wäre es noch gewesen, wenn sich auch eine Karte mit den Stationen von Annies Welttour hätte finden lassen.

Zu Beginn habe ich etwas Schwierigkeiten, in die Geschichte zu starten, denn der Einstieg ist die Grundlage für Annies Versuch, mit dem Fahrrad um die Welt zu radeln. Es dauert ein bisschen, bis ich Fuß fasse und bin dennoch schnell im Jahr 1894 abgetaucht. Ob es damals tatsächlich eine Wette war, die dafür sorgte, dass sich Annie in den Sattel schwang, ist nicht sicher belegt. Hier schlägt Susanna Leonard zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen hat sie eine schöne Wahrscheinlichkeit ersonnen, woraus eine solche Wette resultiert haben könnte, zum anderen erlebe ich, wie geringschätzig über die Frauen damals gedacht wurde. So wird das Lokalkolorit sauber eingefangen und es wird schnell deutlich, wie mutig diese Fahrt um die Welt ist.

Hauptsächlich werde ich durch das Buch mithilfe des personalen Erzählers geführt, sodass ich neben Annie Londonderry noch weiteren Figuren über die Schulter schauen kann. Obwohl die Kapitel lediglich betitelt sind und gelegentlich um Ort und Datumsangabe erweitert werden, wird immer schnell klar, wen ich aktuell begleite.
Auch gibt es vereinzelte Tagebucheinträge von Annie Londonderry, die in einem anderen Schriftbild abgedruckt sind. Mir gefällt diese Mischung der Perspektiven, denn so liest sich „Die Radfahrerin: Annie Londonderry“ abwechslungsreich und gleichzeitig erfolgt eine optische Trennung der Erzählperspektive.
Ein weiterer Clou in „Die Radfahrerin: Annie Londonderry“ ist, dass es vereinzelte Szenen gibt, die in der jüngeren Vergangenheit spielen, als Annie schon eine ältere Frau ist. Da erzählt sie einer Nonne ihre Lebensgeschichte. Der Kniff ist geschickt, was erst zum Ende des Buches deutlich wird.

Den Löwenanteil an „Die Radfahrerin: Annie Londonderry“ hat selbstverständlich die Protagonistin. Ich lerne Annie zuerst einmal in ihrem alltäglichen Leben kennen. Es ist geprägt von Armut, eingeforderten Ehepflichten, religiös bestimmten Verhaltensregeln und dem engen Zusammenleben mit der Familie ihres Bruders. Annies Mann bringt als Hausierer nicht so viel Geld mit nach Hause, dass Annie ihre Lieben gut versorgen kann, sodass sie ebenfalls arbeiten geht. Ihren Job als Annoncenverkäuferin beherrscht sie super, ihr Erfindungs- und Wortreichtum ist riesig. Das wird auch im Verlauf des Buches immer deutlicher, denn Annie liebt es, ihre Erlebnisse aufzupolieren und gerne hier und da fantasievoll zu erweitern. Die Gründe dafür sind vielfältig und nicht immer klar erkennbar. Die Einschränkungen ihres Lebens im jüdischen Getto raubt Annie schier die Luft zum Atmen und so kann ich es sehr gut nachvollziehen, dass der Drang nach Freiheit und Veränderung sie zu dem Abenteuer mit dem Fahrrad um die Welt zu fahren, förmlich mitreist.

Susanna Leonard gelingt es mit viel Fingerspitzengefühl und einem unglaublich packenden Schreibstil Annie sehr menschlich und die Umgebung realistisch darzustellen. Ihr Wankelmut zwischen Aufgabe und dem Willen, es zu schaffen, ist ergreifend geschildert. Ihre Emotionen und Gedankengänge sind so plastisch dargestellt, dass ich Annie einfach nur gernhaben kann und auch Verständnis für sie aufbringe. Mehr noch, die Reise birgt unglaublich viele Gefahren und das ringt mir auch riesigen Respekt ab. Mehr als nur einmal landet Annie im Gefängnis und gerät in lebensbedrohliche Lagen. Susanna Leonard nimmt mich mit auf die Stationen von Annies Reise und ich bin begeistert von den unterschiedlichen Atmosphären und Schilderungen der beschwerlichen Fahrt.
Annie wird im Verlauf immer widersprüchlicher, verstrickt sich in ihren eigenen Erzählungen und Lügen. Gleichzeitig zeichnet sie sich durch ihren Mut, ihr Durchhaltevermögen und ihren Enthusiasmus aus. Annie ist eine sehr vielschichtige Persönlichkeit, sodass sie dem Ruf nach Freiheit einfach folgen muss. Das hat einen hohen Preis, auch das wird in „Die Radfahrerin: Annie Londonderry“ sehr deutlich.

Neben Annies Reise und Strapazen flechtet Susanna Leonard auch politische Entwicklungen und spannende Fakten rund um die damalige Situation in der Fahrradbranche und den Hype um diese neue Errungenschaft der Fortbewegung mit in die Geschichte ein. Das stärkt das Gefühl für die damalige Zeit enorm. Im Verlauf des Buches nimmt allerdings die Detailfülle an Informationen über Annies Reisestationen immer mehr ab. Ein Grund könnte sein, dass die Faktenlage immer dünner wurde. Ein bisschen schade ist es schon, gerade die Fahrt durch fremde Länder wie China oder Japan wäre spannend gewesen. Doch das war aus historischer Sicht auch gar nicht möglich, beziehungsweise einfach. Denn von Juli 1894 bis April 1895 tobte der erste japanisch-chinesische Krieg, was auch in einer besonders grausamen Szene kurz angerissen wird.

Das Buch „Die Radfahrerin: Annie Londonderry“ schließt fast schon ein bisschen trübsinnig ab. Der Preis für Annies Erfüllung ihres sehnlichsten Traumes ist hoch und lässt mich nachdenklich zurück. Gern hätte ich noch länger von dieser beeindruckenden Persönlichkeit gelesen und erfahren, wie es nach der Weltumrundung mit ihr weiterging. Leider bleibt das meiste meiner eigenen Fantasie überlassen. Doch Susanna Leonard hat mich nicht ganz allein gelassen damit, denn nun machen die Szenen mit der Begegnung zwischen der altgewordenen Annie und einer Nonne viel Sinn.

Die Radfahrerin: Annie Londonderry von Susanna Leonard
© Foto: Monique Meier

Kurz gesagt:

Was dich erwartet:

Eine Romanbiografie über eine Frau, die aus dem historischen Gedächtnis leider größtenteils verschwunden ist. Susanna Leonhard verbindet in diesem Buch Wahrheit und Fiktion so geschickt miteinander, dass Annie Londonderry sich wieder in den Fahrradsattel schwingen und ihre Geschichte erzählt werden kann.

Lesen:

Wenn ihr eine beeindruckende Frau kennenlernen wollt, die 1894 mit einem Fahrrad die Welt umrundete.

Weglegen:

Dafür gibt es keinen Grund. Obwohl es eine Biografie ist, wird sie durch die Romanform lebendig erzählt. Wenn ihr unsicher seid, die Leseprobe hilft bei der Entscheidungsfindung.

Mal ehrlich:

Von Susanna Leonard habe ich schon die Romanbiografie über Dian Fossey gelesen und da mir Annie Londonderry gar nichts sagte, was ich so gespannt auf dieses Buch.
Die Verarbeitung so weniger gesicherter Fakten zu einem glaubwürdigen Roman ist sehr gelungen. Im Buch wird nicht nur Annie und ihr Leben vor der Weltumrundung intensiv beleuchtet, sondern auch durch andere Figuren, die ich begleiten darf, mit Tiefe versehen. Die Welt um 1894 war definitiv anders als heute. Das Fahrrad kam gerade erst in Mode, politisch war eine Menge los und die Meinung der Männer über Frauen nicht besonders hoch. Mittendrin eine junge Jüdin, der das eingeengte Leben im Getto die Luft zum Atmen nimmt. Mutter von drei Kindern, Ehefrau eines gottesfürchtigen Mannes und das Teilen des Lebensraumes mit der Familie ihres Bruders wecken in Annie den Wunsch nach Freiheit.
So ist die Verlockung groß, die Weltumrundung mit dem Fahrrad zu wagen, an dessen Ende sie ein schwindelerregend hoher Geldbetrag erwartet.
Die Widrigkeiten, mit denen Annie zu kämpfen hat, sei es familiärer, politischer, reisebedingter oder emotionaler Natur, werden kurzweilig und mit viel Empathie erzählt. Annies Abenteuer liest sich absolut glaubwürdig, genauso könnte es gewesen sein.
Es ist schade, dass eine so interessante Persönlichkeit wie Annie Londonderry mit ihrer Weltumrundung mit dem Fahrrad aus dem historischen Gedächtnis fast völlig gestrichen wurde. Zum Glück hat Susanna Leonard ihr mit diesem Buch den Weg zurück geebnet.

Fazit:

Absolut lesenswert. Trotz viel Fiktion lässt sich diese Romanbiografie natürlich und echt lesen, sodass die Verschmelzung von Wahrheit und großzügiger Interpretationen nicht spürbar ist. Unterhaltsam, abenteuerlich und mit einem packenden Blick zurück in eine Zeit, als Frauen nicht viele Rechte hatten.

*Das Buch ist überall im Handel erhältlich*

Lesetipp:

Lust auf eine weitere Romanbiografie?
Dann empfehle ich euch:
Dian Fossey – Die Forscherin von Susanna Leonard