Quickinfo:
Titel des Buches:
Erben der Macht: Narben und Namen                                       
Autor des Buches:
Christine Stark
Veröffentlicht am: 
Montag, 21. August 2017
Seitenzahl: 436
Genre:
Dystopie / Liebesroman
Ein- oder Mehrteiler: Einzelband
Cover:



















Klappentext:
Die Stadt Oziljak ist zerfressen von Korruption. Der reiche Geschäftsmann Victor Mocovic zieht die Fäden und regiert als sogenannter „Patron“. Gemeinsam mit seinem entstellten Bruder Scar überzieht er die Stadt mit Angst und Gewalt, um sich so seine Macht zu sichern. Mittendrin, die Malerin Maya Stratov, die schon aufgrund ihres Namens der Familie Mocovic nicht zu nahe kommen sollte. Doch eine einzige unbedachte Aktion bringt sie ins Visier der Brüder und zieht sie in einen gefährlichen Strudel der Gefühle.

Über die Autorin (sie kommt hier selbst zu Wort):

Nachdem ich die letzte halbe Stunde damit verbracht habe, zu
versuchen, ein halbwegs brauchbares Selfie von mir hinzubekommen (schön von
oben, schön vor meiner riesigen Bücherwand oder auch schön nachdenklich – wie
eine echte Autorin eben), gebe ich jetzt auf und tue das, was eine Autorin
besser können müsste, als Selfies zu machen: Ich beschreibe mein perfektes Foto
in Worten.
Da stehe ich nun also, Christine Stark, die Autorin von
„Erben der Macht“. Mein Buch habe ich nicht in der Hand – im Bücherregal hinter
mir liegt aber irgendwo mein altersschwacher eReader herum – das muss reichen.
Meine vielen, dicken, langen kastanienbraunen Haare sind
frisch gekämmt und stehen demzufolge so störrisch von meinem Kopf ab, dass ich
aussehe wie Hagrid (ohne Bart und nicht so groß und… aber die Frisur kommt
hin). Selbstverständlich ist das Absicht. Es soll dem Betrachter zeigen: Hier
ist ein kreativer Kopf am Werk.
Mein Gesichtsausdruck ist die beste Mischung aus lächeln,
strahlend in die Kamera blicken, die faltige Stirn glätten, entspannt sein und
Intelligenz ausstrahlen. Sofern es möglich ist, das zu vereinen.
Meine Kleidung ist schwarz. Was daran liegt, dass ich kaum
etwas anderes habe. Außerdem hat es so einen Hauch von Existenzialismus.
Das Regal hinter mir beherbergt neben dem lässig drapierten
eReader Bücher, die etwas über mich aussagen: Da ist zum Beispiel das
Töpferbuch von Bernhard Leach, das zeigen soll, was mein eigentlicher Beruf
ist. Da sind die Kinderbücher, die verraten, dass ich Mutter bin sowie die
unglaublichen Schinken über Neurologie, die mein Mann liest, als wären es
Romane. Da sind meine Lieblingsbücher, die dem Betrachter mein Alter in
Leuchtschrift präsentieren. Richtig: 39.
Da sind Unmengen an Reclamheftchen und Theatermanuskripten,
die sagen, dass es noch eine Leidenschaft neben der Schreiberei gibt. Und
schließlich sind da dann die vielen Notizbücher, vollgekritzelt bis zur letzten
Seite. Alles, was geschrieben werden muss, findet sich in den bunten Heftchen.
Blogbeiträge, Geschichten, Romananfänge, Buchideen, Ideen für Theaterstücke und
schließlich irgendwo dazwischen – der fertige Roman.
Wahrscheinlich kommt demnächst noch „Selfies machen für
Dummies“ dazu.


Zum Buch:

Auf das Buch bin ich durch Christine Stark selber aufmerksam geworden. Sie hat mir eine ganz nette Mail geschrieben. Die Beschreibung ihres Buches fand ich sehr interessant, sodass ich neugierig auf die Geschichte Maya und Sebastian war. Wenn ihr meine Meinung zu dem Buch wissen möchtet, dann lest doch gern meine Rezension


Leseprobe mit freundlicher Genehmigung von Christine Stark:

Prolog

Erste Risse

Irgendwann zuvor

Trinken. Bis zu Besinnungslosigkeit. Jetzt. Schnell. Viel.
In Mayas Glas klirrten die Eiswürfel, die bittere Flüssigkeit rann durch ihren
Hals und brannte in ihrem Magen. Es war noch zu wenig. Ihre Wut ließ sich davon
nicht bändigen. Die lauten, harten Bässe des Clubs heizten sie sogar noch an.
Maya atmete tief durch, ballte die Hände zu Fäusten, versuchte, dem Drang zu
widerstehen, jemanden zu schlagen. Sie wollte sich bewegen. Sie musste sich
bewegen. Maya bahnte sich einen Weg durch die Menschen, die im flackernden,
düsteren Licht der großen Industriehalle alle gleich aussahen. Gleich schwarz.
Sie rempelte sie an, ignorierte die Beschimpfungen. Mit dem Finger zog sie das
Band aus ihren Haaren und spürte, wie sich die schwere dunkle Masse über ihre
Schultern ausbreitete, schüttelte den Kopf und begann zu tanzen.

Vater, Michael, Mia. Wie Blitzlichter tauchten sie vor ihrem
inneren Auge auf. Ihr Vater, ihr Bruder, ihre Schwester. Sogar Mia. Sie hatten
sie verraten. Wie konnten sie nur? Wie konnten sie nur! Maya ließ ihrer Wut
freien Lauf. Ihr Körper übernahm die Kontrolle, bewegte sich wild. Es war
erdrückend heiß, die Musik knallte in ihren Ohren und ihre Haare klebten an
ihrem schweißfeuchten Gesicht. Es war ihr egal. Sie war hier, sie tanzte. Ihr
Herz schlug im Rhythmus der Musik. Ihre Wut wich ihren schweren Atemzügen,
begann sich aufzulösen und war schlagartig zurück, als zwei Hände nach ihren
Hüften griffen und sich ein Körper von hinten an sie drückte. Erschrocken fuhr
sie herum und blickte in ein Paar verschwommen glänzende Männeraugen. Ein
ekelhaftes, geiferndes Grinsen, wie nur Betrunkene es haben, zierte sein
unrasiertes Gesicht, als der Mann versuchte, sich noch näher an Maya zu
drängen. Doch so weit kam er nicht. Noch bevor er ein Wort sagen konnte, hatte
Maya dem Mann beide Hände vor die Brust geknallt. Sie spürte den Rückstoß in
ihren Schultern und etwas in ihr gierte danach zu schlagen und zu treten. Doch
der Kerl hatte bereits das Gleichgewicht verloren. Er saß am Boden, seine
glasigen Augen starrten verständnislos zu ihr hoch. Mühsam unterdrückte Maya
die Versuchung ihre Wut an ihm auszulassen. Stattdessen drehte sie sich auf dem
Absatz um und verschwand erneut Richtung Bar. Sie spürte, wie einige Blicke ihr
folgten, doch Maya starrte stur geradeaus. Geradewegs in die blitzenden Augen
eines Mannes, der am Tresen lehnte. Er wirkte groß und dunkel und er lächelte
amüsiert. Maya hob den Kopf und erwiderte den Blick mit aller Arroganz, die sie
aufbringen konnte. Dann amüsier‘ dich doch, du Idiot! Sie blinzelte, wandte den
Kopf ab und erreichte die Bar.

„Whiskey!“, schrie sie über den Tresen. Eigentlich mochte
sie gar keinen Whiskey. Aber das scharfe, bittere Gesöff schien gerade passend.
Nichts war gut. Auch nicht der Whiskey. Der Barkeeper nickte und machte sich an
die Arbeit.

Hastig stürzte sie sich auf die braune Flüssigkeit. Sie
schluckte und verschluckte sich heftig. Sie hustete, bis ihr die Tränen aus den
Augen schossen. Als sie aufblickte, traf sie erneut der Blick des Mannes an der
Bar. Doch nun war er viel näher gekommen. Er stand direkt vor ihr und lächelte
ein entwaffnendes Lächeln.

„Ich würde dir ja gerne helfen, aber ich habe Angst, dass du
mich niederschlägst, sobald ich dir auf den Rücken klopfe.“

„Nicht…“ röchelte Maya. Ihre Stimme kam nur langsam wieder
zurück. „Jetzt nicht.“

„Nicht klopfen?“, der Kerl musterte sie immer noch grinsend.

„Arschloch“, zischte Maya. Sie hatte sich wieder gefangen,
atmete mehrmals tief durch und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Als
sie sie wieder öffnete, begann sie nun ihrerseits ihr Gegenüber zu mustern.
Einige Strähnen seiner schulterlangen schwarzen Haare waren ihm in sein
markantes, scharf geschnittenes Gesicht gefallen und sein Lächeln entblößte
eine Reihe perfekter Zähne. Im düsteren Licht des Clubs versuchte sie sein
Alter zu schätzen. Er schien nicht viel älter zu sein als sie. Fünfundzwanzig
vielleicht? Und er war definitiv viel zu groß, um ihn niederschlagen zu können,
stellte Maya resigniert fest.

Ihre Blicke trafen sich und hielten sich fest. Sein Lächeln
verschwand.

„Die Welt ist scheiße?“, konstatierte er.

„Exakt.“ Immer noch hielt sie seinem Blick stand.

„Die Welt ist scheiße und es gibt nichts, was sie besser
machen könnte. Nicht einmal Whiskey?“

„An diesem ekelhaften Gesöff verschluckt man sich nur.“

Jetzt grinste er wieder. Er beugte sich vor, ohne ihr
Gesicht auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen.

„Komm mit.“ Seine Stimme war gerade so laut, dass sie sie
hören könnte. Dann griff seine raue, warme Hand nach der ihren und schon einen
Moment später fand sie sich auf der Straße wieder. Er zog sie mit sich. Maya
fragte nicht wohin.

 
Sie rannten durch die schwüle Nachtluft, vorbei an
Partygängern, Betrunkenen und schrill lärmenden Mädchen. Es fühlte sich gut an
zu laufen, die Oberschenkel brennen zu spüren und außer Atem zu kommen. Im
Nachhinein war es gar keine so schlechte Idee gewesen, die Stiefel statt der
Highheels anzuziehen. Sie ließen das überfüllte Partyviertel hinter sich und
bogen mehrfach ab in ruhigere Straßen. Mayas Hals schmerzte und sie bekam kaum
noch Luft. Sie wollte sich gerade losreißen und ihm sagen, dass sie nicht mehr
konnte, da wurde er auch schon langsamer und blieb schließlich stehen.

„Hier wohne ich“, erklärte er ihr, nicht halb so schwer
atmend wie Maya. Wie ungerecht, fand sie. Als er in seine Jeanstasche nach dem
Schlüssel griff, hielt er inne und blickte sie fragend an.

Wenn sie sich aus dem Staub machen wollte, dann war wohl
jetzt die Gelegenheit dazu, schoss Maya durch den Kopf. Aber ihr fiel wirklich
kein Grund ein, warum sie gehen sollte. Das hier würde helfen. Das hier musste
helfen.

„Was ist?“, fragte sie herausfordernd.

„Alles okay?“ Seine Stimme klang, als wollte er das wirklich
wissen.

„Nein, nichts ist okay“, antwortete sie hart. „Aber lass uns
jetzt endlich reingehen.“

Aufgeputscht von ihrer eigenen Waghalsigkeit ließ sich Maya
ins Treppenhaus ziehen. Sie liefen gemeinsam die Stufen hinauf. Die Spannung
zwischen ihnen schien greifbar. Nervös lachte sie auf. Vier Stockwerke später
blieb er abrupt stehen, drehte sich zu ihr um, schob sie gegen die Wand und
küsste sie. Nicht vorsichtig, nicht zärtlich, sondern gierig. Maya erwiderte
seinen Kuss mit derselben Gier, verlor sich in der Hitze, genoss die Kraft, mit
der er seine Arme um ihren Körper legte. Sie fielen förmlich in sein
Appartement. Maya hatte die Hände in seinen schwarzen Haaren vergraben um ihn
noch näher an sich zu ziehen, ihre Lippen immer noch auf seinen, sein Atem in
ihrem Mund.

„Moment“, flüsterte er zwischen zwei Küssen. Und als Maya
nicht reagierte noch einmal. „Moment.“ Er schob sie sanft von sich. Als er
Mayas fragenden Blick auffing, lächelte er. „Ich kann das nicht tun.“ Maya
erschrak.

„Was?“ Sie begann die Fassung zu verlieren, das spürte sie
ganz deutlich. Dieser furchtbare Abend! Sollte er denn immer so weiter gehen?
Kam jetzt eine weitere Demütigung? Sie wollte ihm eine gemeine Antwort
entgegenschleudern, ihn beschimpfen, ihn schlagen. Doch noch bevor sie sich
auch nur die passenden Worte zurechtlegen konnte, hob er abwehrend die Hand.
Immer noch lächelte er und etwas blitzte in seinen blaugrauen Augen.

„Ich kann das nicht tun, ohne zu wissen, wie du heißt.“ Der
Schock über die Tatsache, dass sie hier eng umschlungen mit einem völlig
Fremden stand, für den auch sie eine völlig Fremde war, mischte sich mit
unglaublicher Erleichterung und raubte ihr die Worte.

„Wie ist dein Name?“, fragte er noch einmal. Seine Finger
glitten über ihre Wange, sein Daumen strich über ihren Mund. Maya musste
schlucken.

„Maya“, brachte sie schließlich hervor.

„Maya“, wiederholte er „Ich bin Sebastian.“

Dann packte seine Hand sie fest im Nacken und sein heißer
Atem strich über ihre Kehle, als er begann sie auszuziehen.

 

Der Unterschied könnte wirklich nicht größer sein. Sebastian
betrachtete die schlafende Frau in seinem Bett. Maya hatte sich in das weiße
Laken gewickelt. Nur ihre Schultern, ihr Kopf und die dunklen Haare waren zu
sehen. Aber was gestern noch erdfarben und glatt über ihre Schultern geflossen
war, lag jetzt wirr und zerzaust auf dem Kissen. Ihr Gesicht sah so friedlich
aus. Ihre Lippen, voll und weich, hatten noch vor kurzem hart und verzweifelt
nach den seinen gesucht und Sebastian spürte die Stelle an der Schulter, an der
sie ihn gebissen hatte. Vorsichtig berührte er die beiden roten Halbmonde auf
seiner Haut. Er versuchte, kein Geräusch zu machen, um sie nicht zu wecken. Zu
faszinierend war die völlige Veränderung dieser Frau. Ihre Finger hatten sich
in seinen Rücken gekrallt, ihre Beine seine Hüften an den ihren gehalten. Und
nun lag Maya so entspannt vor ihm, als wäre ihre Wut vollständig verraucht.
Manche Menschen, so dachte er, nahmen ihre Probleme mit in den Schlaf, bissen
sich auf die Lippen oder legten die Stirn in Falten. Aber ihr Gesicht war so
glatt und ruhig, als wären die Probleme der Welt weit entfernt oder existierten
einfach nicht.

Es war so leicht gewesen, sie in seine Wohnung zu bekommen.
Nicht, dass es jemals wirklich schwer gewesen wäre, stellte er fest. Aber
beinahe hatte er das Gefühl, sie hätte ihn abgeschleppt und nicht umgekehrt.

Selbstverständlich wusste er, dass es Zeit war, sie zu wecken.
Die Frauen, die in seine Wohnung kamen, blieben nie zum Frühstück. Irgendwann
einmal würde er eine Frau haben, die er heiraten würde. Eine Frau, die seiner
Familie und seinen Verbindungen von Nutzen sein würde. Sie würden Kinder haben
und die Familie erhalten. Die Familie und das Geschäft. Doch noch war es nicht
soweit. Und bis dahin war es nicht sinnvoll sich an eine Frau zu binden.
Gefühle zu investieren lohnte sich nicht für ihn. Und doch bewegte er sich
keinen Millimeter. Er unternahm nichts, um ihren Schlaf zu stören. Vielleicht
weil er ahnte, dass sie schneller verschwunden sein würde, als er sie aus dem
Appartement bitten konnte. Sie war betrunken gewesen, erinnerte er sich. Aber
nicht so sehr, um die Kontrolle zu verlieren. Sie hatte ihn benutzen wollen und
hatte es getan. Maya war wütend gewesen und hart. So, als würde es sich auch
für sie nicht lohnen, Gefühle zu investieren.

Sebastian schloss die Augen. Hier lag er nun und dachte über
Gefühle nach. Wie erbärmlich. Er musste sie wecken, sich an die Regeln des
One-Night-Stands halten. Keine Gefühle, kein Frühstück, keine Telefonnummern.
Entschlossen drehte er sich zu Maya und gönnte sich noch einen letzten Blick
auf ihr friedliches Gesicht. Maya musste seine Bewegung gespürt haben, denn sie
öffnete die Augen und das grün ihrer Iris schien verschwommen und weich. Zum
Teufel mit den Regeln!

„Zeit zu verschwinden“, murmelte sie und begann sich aus dem
Laken zu befreien.

Sebastians Stimme klang seltsam heiser in seinen Ohren.
„Nein, bitte bleib.“

Maya hielt mitten in der Bewegung inne. Einige Sekunden
verstrichen. Dann lächelte sie. Ganz sanft drückte Sebastian sie zurück in die
Kissen, beugte sich über sie und küsste dieses Lächeln.





1
Du sitzt hier doch genauso
fest wie ich
5 Jahre später
Die Sperrstunde war bereits
verstrichen und Maya wünschte sich, die drei verbliebenen Gäste würden endlich
zahlen und ihr Café verlassen. Nicht nur, weil es spät war. Es lag auch an dem
Thema, um das es sich an diesem Tisch bereits den ganzen Abend drehte. Maya konnte
sich keinen Ärger leisten. Und in Zeiten wie diesen war es so einfach, sich
Ärger einzuhandeln. Da reichte es schon, wenn irgendjemand ausplauderte, dass
man Gäste in seinem Laden duldete, die die falschen Gedanken dachten. Die
Mocovic–Brüder hatten schon Leute für Weniger einsperren oder schlicht
verschwinden lassen. Wie immer bei dem Namen Mocovic stellten sich sämtliche
Härchen an Mayas Körper auf. Wenn sie sich vor ein paar Jahren dem Willen ihrer
Familie gebeugt hätte, wäre sie jetzt auch Teil der Mocovics. Wäre dann alles
anders gekommen? Das fragte sie sich oft. Aber die Tatsache, dass die Dinge
sich so entwickelt hatten, konnte nicht alleine an ihrer Entscheidung gelegen
haben. Zu viel hatte sich verändert, seit ihre Familie – die Familie Stratov –
den Kampf um die Vorherrschaft in der Stadt Oziljak verloren hatte.

Maya hatte sich geweigert,
Victor, den jüngeren der beiden Mocovic-Brüder zu heiraten. Ohne ihn vorher
auch nur ein einziges Mal gesehen zu haben. Jetzt wusste sie natürlich, wer
Viktor Mocovic war. Sein Bild war ständig in allen Zeitungen. Schließlich war
er der neue Patron der Stadt. Ein junger Patron, ein brutaler, gnadenloser
Patron. Anders, als es zuvor ihr Vater gewesen war.

Die Stratovs hatten ihr Geld mit
einem undurchschaubaren Geflecht von Geschäften gemacht, hatten klug taktiert,
Bündnisse geschlossen und waren zur ersten Familie Oziljaks aufgestiegen. Mit
mehr Einfluss, als es zuvor jemals eine Unternehmerdynastie gehabt hatte. Alle
hatten nach der Pfeife ihres Vaters getanzt. Politik, Justiz, Medien. Er hatte
sie alle bezahlt und die Stadt als „guter Patron“ quasi regiert. »Mafiöse
Strukturen« hatten einige Kritiker angemerkt. Sicher. Denn Markus Stratov hatte
im Schatten die Fäden gezogen. Die Menschen hatten lange nicht gemerkt, wer
eigentlich über sie bestimmte. Doch als sie es begriffen hatten, hatte sich
niemand mehr gewehrt. Zu gut war es vielen seither gegangen. Denn die Gewinne
ihres Vaters waren gestiegen. Das hatte den Menschen in Oziljak Arbeit
verschafft und niemand konnte oder wollte sich gegen ein System wehren, das
Arbeitsplätze schaffte – selbst, wenn es undemokratisch war. Die Zeitungen
hatten von rosigen Zeiten berichtet. Die nicht so strahlenden Seiten seiner
Regentschaft hatte er seinem neuen Freund Gabriel Mocovic und dessen Familie
überlassen. Sie hatten die schlimmen Ecken gesäubert, hatten für Mayas Vater
aufgeräumt. Die Männer fürs Grobe. Eine eigene Schutztruppe – zusätzlich zur
gekauften Polizei. Doch Gabriel Mocovic war nicht dumm gewesen. Er hatte gewittert,
dass bei Mayas Vater mehr zu holen war, als nur Geld. Er hatte Einfluss haben
wollen. Und ihr Vater war bereit gewesen – oder auch gezwungen – Mocovic mehr
zu geben. Seine jüngere Tochter für Mocovics jüngeren Sohn. Als Maya sich
geweigert hatte, waren die Dinge in Schieflage geraten.

Aber wie hätte Maya sich auch
nicht weigern können? Schließlich hatte sie nicht die geringste Ahnung gehabt,
wie die Dinge in Oziljak liefen. Vier Jahre war sie im Ausland gewesen, hatte
studiert, sich ihrer Kunst gewidmet und nicht einen Moment an ihre Familie
gedacht. Es war ihr schon immer suspekt gewesen, Mitglied einer so
einflussreichen Dynastie zu sein. In Ihrer Kindheit hatte ihr Vater sie und
ihre Geschwister benutzt, um seinem Aufstieg ein menschliches, weiches Gesicht
zu verleihen. Ständig waren Michael, Mia und Maya für die Gazetten der Stadt
abgelichtet worden. Mia als „die Große“, Michael als „der Nachfolger“ und Maya
als Nesthäkchen. Es war ihr unangenehm gewesen, fotografiert zu werden. Dann,
als Maya vierzehn Jahre alt war, war ihre Mutter an Krebs gestorben und Maya
hatte begonnen, sich abzukapseln. Sie hatte gegen den Drill ihres Vaters
rebelliert und bei der ersten Gelegenheit Reißaus genommen. Ihr Vater hatte
ihr, scheinbar kommentarlos, ihren Willen gelassen. Sie hatte im Ausland eine
Kunstschule besuchen dürfen, war nicht zu Familienfesten zitiert worden und
fortan auch nicht mehr Gegenstand der Klatschpresse. Die Tatsache, dass diese
Freiheiten ihren Preis haben würden, und dass ihr Vater diesen Preis einfordern
würde, hatte sie verdrängt. Ahnungslos war sie zurückgekommen. Und war aus
allen Wolken gefallen, als ihr Vater ihr seine Pläne erklärte.

„Ich brauche dich. Du wirst das
für die Familie tun!“, hatte er gefordert. Maya konnte sich mühelos ins Gedächtnis
rufen, wie ihr Vater in der Bibliothek des riesigen Stratov-Anwesens vor ihr
gestanden hatte. Unnachgiebig und autoritär. Dabei war er nicht einmal sehr
groß oder sehr stark gewesen. Seine Haltung hatte es ausgemacht. Und sein
messerscharfer Verstand. Solchen Menschen widersprach man nicht.

„Ich weiß nicht, was du hast“,
hatte es ihr Bruder Michael versucht. Um einiges sanfter als ihr Vater. „Viktor
ist doch eine glänzende Partie. Er sieht ziemlich gut aus. Die Frauen reißen
sich um ihn und du? Du willst ihn nicht!“ Er hatte die Hände in die Luft
geworfen, wie um zu sagen. „Ich verstehe sie nicht, ich kann ihr auch nicht
helfen.“ Dabei hatte er Mayas Schwester einen vielsagenden Blick zugeworfen.

Doch Mia hatte nur geschwiegen.
Ihre Ehe mit Richard Krik war zwei Jahre zuvor arrangiert worden. Sie hatte ihr
nicht helfen wollen. Vielleicht hatte sie auch nicht gekonnt.

Maya zuckte mit den Schultern.
Wie es auch gewesen sein mag, es war egal. Sie hatte sich noch am selben Abend
erneut davon gemacht. Zuerst ins Bett eines gutaussehenden Fremden, dann wieder
außer Landes, zurück an ihre Schule. Sie musste lächeln, als sie an die Nacht
mit Sebastian dachte. An die schwarzen Haare und die blitzenden blaugrauen
Augen. Damals hatte die Welt, wie sie sie kannte, gerade eben den ersten Riss
bekommen. Seitdem war es unaufhörlich bergab gegangen.

Wieder in ihrem Studienexil
angekommen, hatte sie erwartet, ihre Familie würde hartnäckig versuchen, sie
doch noch zu dieser Ehe zu zwingen. Jeden Morgen hatte sie damit gerechnet, die
Männer ihres Vaters würden schon bald vor ihrer Tür stehen und sie mitnehmen.
Aber das war nie geschehen. Stattdessen waren in den Zeitungen Berichte
aufgetaucht – Randnotizen über Bandenkriege und organisiertes Verbrechen in
ihrer Heimatstadt. Maya hatte sich gefragt, ob ihr Vater die Kontrolle verloren
hatte.

Wenig später hatte sie den Anruf
erhalten. Mias Stimme hatte beherrscht geklungen, aber Maya war die
Verzweiflung dahinter nicht entgangen.

„Vater und Michael sind tot. Die
Mocovics haben alles an sich gerissen. Maya, komm nicht hier her! Komm auf gar
keinen Fall hier her! Nicht einmal zur Beerdigung, hörst du?“

Düster blickte Maya in ihrem Café
vor sich hin. Sie sollte endlich aufhören, sich selbst zu geißeln. Das führte
doch zu nichts. Es war, wie es war. Und so würde es auch noch für eine ganze
Weile bleiben, denn Viktor Mocovic sorgte schon dafür, dass jeder, der seinen
Sturz forderte, schon bald sein eigenes Blut zu schlucken bekam. Maya atmete
tief durch. Es war jetzt wirklich Zeit, hier Schluss zu machen. Sie legte das
Geschirrtuch, das sie gedankenverloren geknetet hatte, auf den Tresen und trat
an den Tisch mit ihren verbliebenen Gästen.

„Das ist so ungerecht!“,
schimpfte die Frau mit den langen mausbraunen Haaren gerade zum wiederholten
Mal. Ihre zwei Begleiter, ein hagerer, großer Blonder und ein etwas Kleinerer
mit dunklen Haaren, nickten – ebenfalls nicht zu ersten Mal an diesem Abend.

„Leute, ich wäre euch dankbar,
wenn ihr die Ungerechtigkeiten dieser Welt wann anders und vor allem woanders
klären könntet“, begann Maya. Die Gruppe verstummte und die beiden Männer sahen
ertappt drein. Die Frau jedoch warf ihre strähnigen Haare zurück und blickte
Maya herausfordernd an.

„Ich dachte, dieses Lokal sei
anders“, schnappte sie.

„Und selbst wenn, kommt die
Besitzerin dieses anderen Lokals trotzdem nicht ohne Schlaf aus. Im Ernst, es
ist schon spät“, erwiderte Maya so freundlich wie möglich. Doch es half nichts
gegen die Streitlust dieser Frau. Ihr schmaler Mund verzog sich spöttisch.

„Ich bin der Meinung, es ist nie
zu spät, sich über die Dinge zu unterhalten, die in dieser Stadt schief
laufen.“

„Cordula!“, der große Hagere
legte seiner Freundin warnend die Hand auf den Arm. Sie wagte sich eindeutig
auf zu gefährliches Gebiet. In Oziljak konnte man niemandem trauen. Maya
seufzte.

„Meinetwegen. Aber geht dafür
woanders hin, bitte.“ Sie zückte demonstrativ ihren Geldbeutel.

Die beiden Männer beeilten sich
zu zahlen. Ihre Freundin dagegen ließ sich Zeit und murmelte halblaut vor sich
hin, während sie die Münzen aus ihrer Börse zählte.

„Woanders hingehen… am besten
auswandern… als ob das so einfach wäre… ohne Geld kommst du doch nur bis zur
nächsten Stadt… da ist es auch nicht viel anders.“ Und mit einem bitteren
Lächeln sah sie Maya in die Augen und ergänzte:

„Du sitzt doch hier genauso fest
wie wir.“ Damit erhoben sich Mayas Gäste und ließen sie endlich allein. Maya
schloss hinter den Dreien ab und räumte das restliche Geschirr in die Spüle.
Abwaschen würde sie morgen. Dazu fehlte ihr heute die Lust. Mit einem feuchten
Lappen wischte sie die restlichen Tische ab und stellte die Stühle nach oben.

Natürlich saß sie hier fest. Auf
ihre eigene Weise. Sie hielt sich selbst hier fest und wusste nicht einmal so
recht wieso. Sie verband keine sentimentalen Gefühle mit der Stadt, in der sie
geboren worden war. Noch dazu war es hier für sie gefährlicher, als an jedem
anderen Ort der Welt. Sicher, die Mocovics hatte es schon lange aufgegeben nach
den Stratov-Schwestern zu suchen. Aber wenn sie jemand wiedererkannte und
darüber redete….

Wahrscheinlich würde der Patron
einfach die Gelegenheit nutzen, noch ein Mitglied der Familie Stratov
hinzurichten.  Der falsche Name und die
Tatsache, dass sie als erwachsene Maya Stratov früher so gut wie nie in Oziljak
unterwegs gewesen war, schützten sie vorerst. Von Maya Stratov gab es, soweit
sie wusste, keine Bilder. Aber sicher fühlen konnte sie sich trotzdem nie. Was
war es also dann?

Da waren die Kinder, für die sie
Verantwortung hatte. Nicht ihre eigenen, selbstverständlich. Es waren Kinder –
Teenager eigentlich – die nirgends anders hinkonnten. Ihre Eltern hatten
mehrere Jobs und wenig Zeit oder waren schlicht und einfach nicht mehr da. In
Mayas Atelier hinter dem Café verbrachten sie ihre Nachmittage oder die Stunden
zwischen Schule und den Billiglohnjobs in den Fabriken am Stadtrand. Sie
machten Musik, spielten draußen im Hinterhof oder hingen einfach nur rum.
Einige hatten sogar begonnen zu malen, was Maya mit einer Art Mutterstolz
erfüllte. Ja, die Kinder waren ein Grund, nicht zu gehen.

Genau wie ihre Schwester. Mia war
im Widerstand organisiert. Nach dem Tod ihres Vaters, des Bruders und der
Trennung von Richard war sie untergetaucht. Maya hatte weder eine Adresse, noch
häufigen Kontakt mit Mia. Es war einfach zu riskant. Ab und zu erhielt sie
Briefe, geschrieben von ihrer Schwester, ohne Absender, die sie las und
anschließend verbrannte. In einem davon hatte eine Telefonnummer gestanden, die
Maya auswendig lernen sollte. Im Notfall und nur im Notfall konnte sie Mia so
erreichen. Bisher war das nicht nötig gewesen.

Die Briefe waren nicht viel, doch
zumindest wusste Maya, dass ihre Schwester am Leben war. Sie war also nicht
gänzlich allein auf dieser Welt. Und vielleicht war es dieses Bedürfnis, Mia
ihrerseits nicht allein zu lassen, das sie daran hinderte, sich aus dem Staub
zu machen. Sie konnte sich einfach nicht noch einmal abwenden, ungerührt, ob
die Welt hinter ihr in Trümmer fiel.

Sie war gerade dabei, die Krümel
unter den Tischen hervorzukehren, als es heftig an der Eingangstür klopfte.
Maya schreckte hoch. Was war denn nun schon wieder? Schließlich war es bereits
ein Uhr durch. Doch als sie vor der Tür Lisa erkannte, stellte sie schnell den
Besen zu Seite und kramte nach dem Schlüssel. Lisa sah aufgebracht aus. Die
sonst so blassen Wangen der Sechzehnjährigen glühten und sie trat von einem
Bein auf das andere, während sie sich mit der Hand wieder und wieder durch die
lila gefärbten kurzen Haare fuhr. Ihre großen Augen glänzten feucht. Oh nein.
Hoffentlich war nichts Schlimmes passiert. Endlich hatte Maya den richtigen
Schlüssel gefunden und öffnete die Tür. Noch bevor sie fragen konnte, sprudelte
Lisa los:

„Maya, du musst mitkommen! Rocco
ist verschwunden!“

 Wie es weiter geht, erfahrt ihr im Buch Erben der Macht: Narben und Namen.