„Kinder der Wut“ wurde mir vom Mitteldeutscher Verlag vorgestellt. Mich hat sofort der Inhalt angesprochen und der Hinweis, dass es sich hierbei um einen gesellschaftskritischen Kriminalroman handeln soll. Fraglich war für mich an dieser Stelle, ob ich diese Kritik bemerken würde, immerhin lebe ich nicht in Tschechien und habe auch nur wenige Vorstellungen davon, wie sich das dortige Lokalkolorit darstellt.
In meiner Rezension „Kinder der Wut“ von Nela Rywiková werde ich auf diese Punkte eingehen und wie mir insgesamt der Kriminalroman gefallen hat.
Leseexemplar
❧ Vielen Dank an Fabrice Zurmühlen für den freundlichen Austausch
❧ Meine Meinung ist davon unbeeinflusst
© Cover: Mitteldeutscher Verlag
erschienen bei Mitteldeutscher Verlag
Veröffentlicht 17. April 2023
Originaltitel Děti hněvu
Übersetzt von Christina Frankenberg
ca. 312 Seiten
erhältlich als Taschenbuch und eBook
Klappentext
Auf einem heruntergekommenen Bahngelände in Ostrava finden zwei Jungen eine Leiche, die wie eine Jagdtrophäe präpariert worden ist. Die Untersuchungen der Polizei führen in alle gesellschaftlichen Schichten der Stadt, in hohe politische Kreise und zu neureichen Unternehmern, zu Prostituierten und in zerrüttete Familien. Der Verdacht fällt bald auf Erik, einen alten Sonderling, der in Kneipen herumlungert und sich mit der Präparation von toten Tieren ein Zubrot verdient. Doch der Ermittler Adam Vejnar und seine neue Kollegin Zuzana Turková konzentrieren ihre Untersuchungen auf Verstrickungen zwischen einer Politikerin, einem Unternehmer aus der neuen „Elite“ der Stadt und einem ominösen Geschwisterpaar. In „Kinder der Wut“ verknüpft Nela Rywiková geschickt einen Mordfall in der Gegenwart mit einer deutsch-jüdischen Familiengeschichte, die viele Jahrzehnte zurückliegt, und zeigt, wie leicht ein Mensch Opfer von Wut, Geschichte und einer verdrängten Vergangenheit werden kann.
© Klappentext: Mitteldeutscher Verlag
Dieser Kriminalroman ist anders. Das ist schon gleich zu Beginn spürbar. Die Struktur ist ungewohnt, direkte Rede wird nicht wie gewohnt mit Anführungsstrichen sichtbar gemacht. Stattdessen wird sie mithilfe eines Gedankenstrichs kenntlich gemacht, doch nach dem Reden wird nahtlos ins Erzählerische gewechselt. Das hat mich anfänglich irritiert, weil ich noch kein Gespür habe, wann die wörtliche Rede endet. Doch das gibt sich relativ schnell und ich kann gut in die Geschichte abtauchen.
Selbstverständlich machen mir auch ein paar typische tschechische Begrifflichkeiten und Namenseigenheiten Schwierigkeiten. Dadurch ist das Lesen manchmal etwas herausfordernd, aber mit ein bisschen mehr Konzentration komme ich durch diese kleinen Unebenheiten gut durch.
„Kinder der Wut“ hat einen spannenden Aufbau. Es gibt mehrere verschiedenen Erzählfäden, welche ein gut konzipiertes Handlungsgerüst ergeben und durch pfiffig überlegte Rückblenden Nähe zu den unterschiedlichen Charakteren schaffen. Hinzukommt die sehr interessant ausgestaltete Kulisse von Ostrava. Sie ist eine Großstadt in Tschechien, die ich persönlich aber noch nie besucht habe. Das von Nela Rywiková gezeichnete Bild ist eher düster und beklemmend, ich bin mir nicht sicher, ob dies der Stadt wirklich gerecht wird. Dem Setting und der Geschichte aber steht die Atmosphäre sehr wohl.
Innerhalb der Geschichte gibt es zwei Zeitebenen. Beide entwickeln sich in ihrer Zeit chronologisch weiter. Lange bleibt unklar ob, und wie diese beiden Stränge zueinanderpassen. Das schmälert aber nicht den Leseeindruck, denn ich finde die Idee dahinter sehr klug durchdacht. Erst am Ende wird sich alles so klar auflösen, dass ein spannender Aha-Effekt auftritt.
Der historische Erzählfaden berührt mich sehr. Er ist nicht so stark ausgeprägt wie jener aus der Gegenwart und hierbleibt überwiegend dieselbe Person im Fokus des personalen Erzählers. Der Blick auf die tschechische Kriegs- und Nachkriegsvergangenheit geht mir nahe. Im Zentrum steht eine deutsch-jüdische Familiengeschichte, die beschämend aufzeigt, wie grausam die Verfolgung damals war. Auch wie die Auswirkungen auf das unmittelbare Umfeld der Betroffenen waren und wie schnell sich der Wind drehen kann, ist erschütternd. Ich habe mit den Figuren gelitten und es ist durchgängig spürbar, dass hier ein realistischer Blick in die Vergangenheit geworfen wurde.
In der Gegenwart dominieren mehrere Figuren das Handlungsgeschehen. Lange war mir nicht klar, wie manche Charaktere zum Kriminalfall passen. Spannend ist hier, dass Nela Rywiková die Beschreibung der Nebenfiguren nicht so ausführlich ausgestaltet hat wie die der Hauptakteure. Es gelingt ihr dennoch, alles Wichtige auf den Punkt genau zu konzentrieren, auch wenn ich bei dem ein oder anderen Nebencharakter gerne mehr Informationen gehabt hätte.
Sehr deutlich wird allerdings bei dem Gegenwartsstrang, dass sich offenbar zwei Welten überschneiden. Die soziale Ungerechtigkeit kommt in vielen kleinen Details zum Vorschein, die geschickt im Handlungsgeschehen eingebettet werden. So wird recht deutlich, wie stark die Schere bei der sozialen Unterschicht und der modernen Elite auseinanderklafft.
Die Welt der Sozialschwachen ist interessant und vielschichtig beschrieben. Die Authentizität ist berührend und ich meine hier auch den sozialkritischen Unterton herauslesen zu können. Manchmal lasse ich mich davon ein wenig ablenken, sodass in meinem Hinterkopf der Kriminalroman ein bisschen aus dem Fokus rutscht.
Generell erinnert die Geschichte eher an einen klassischen Detektivroman, der sich mit einer Reihe von persönlichen Schicksalen vermengt. Nela Rywiková richtet ihr Augenmerk viel auf die Tragödie des echten Lebens, wodurch der Mordfall manchmal nur die zweite Geige spielt. Das Ermittlerteam um Adam Vejnar und seiner Kollegin Zuzana Turková holt diesen aber immer wieder in mein Gedächtnis. Der Einblick in die Ermittlungsarbeit der hiesigen Polizei ist interessant, besonders auch die internen Ränkespielchen.
Was mir sehr gefällt, ist, dass sich Nela Rywiková Zeit genommen hat, eine sensible Analyse von verschiedensten mentalen Entwicklungsprozessen der Charaktere durchzuführen. So lebt „Kinder der Wut“ förmlich und macht die Geschichte richtig greifbar.
Stück für Stück entblättert sich so eine unglaubliche Tragödie, deren Wurzeln tief und weit reichen.
Das Finale ist unglaublich packend, die Ereignisse überschlagen sich und „Kinder der Wut“ gipfelt in einem Meer aus Blut und verlorenen Träumen. Das Ende ist unglaublich berührend und sehr realistisch. Die Auflösung ist genial. Denn im Grunde offenbart sich am Ende, worauf Nela Rywiková die ganze Zeit hingearbeitet hat und das Motiv für den Mord und die Zurschaustellung des Opfers erklärt sich fast von alleine.
© Foto: Monique Meier
Kurz gesagt:
Was dich erwartet:
Ein eher ruhiger, dafür aber sehr tiefgründiger Kriminalroman, der bis in die tschechische Kriegs- und Nachkriegszeit führt.
Lesen:
Wenn ihr offen für Krimis seid, die vom üblichen Schema abweichen und eher leise und eindringlich erzählt werden.
Weglegen:
So richtig fällt mir kein Grund zum Weglegen ein. Daher meine Empfehlung: Wenn ihr euch unsicher seid, probiert die Leseprobe aus. So bekommt ihr ein Gefühl für das Buch.
Mal ehrlich:
„Kinder der Wut“ ist ein Kriminalroman, der viel mit der Dramatik und der Tragödie des echten Lebens spielt. Zentraler Ausgangspunkt ist die tschechische Großstadt Ostrava, die ich unglaublich düster gezeichnet finde. Schnell wird deutlich, dieser Mord und die Zurschaustellung des Opfers führt in unterschiedlichste Kreise der tschechischen Gesellschaft. Interessanterweise bin auch zu Gast in beiden Gesellschaftsschichten. Ich begleite sowohl Figuren aus der Elite als auch jene Menschen, die der sozialen Unterschicht angehören. Darüber verliere ich manchmal den Kriminalfall aus den Augen und sauge stattdessen die sozialen Unterschiede und persönlichen Lebensläufe der Charaktere auf.
Erzählt wird dieser Krimi in zwei verschiedenen Zeitebenen. Der historische Teil beleuchtet die tschechische Kriegs- und Nachkriegszeit an Hand einer deutsch-jüdischen Familiengeschichte. Dieser Erzählstrang ist am emotionalsten für mich und nimmt mir manchmal die Luft zum Atmen. Die Authentizität steht stark im Vordergrund, sodass mir gerade das sehr unter die Haut geht.
Der Gegenwartsstrang beschäftigt sich mit dem Mordfall der Ermittlung durch die hiesige Polizei und lässt mich gleichzeitig Charaktere begleiten, die direkt oder indirekt mit dem Opfer eine Verbindung haben. Das ist spannend, weil ich einfach nicht einschätzen kann, wohin die Entwicklung gehen wird.
So interessant „Kinder der Wut“ auch zu lesen ist, es ist manchmal auch viel Konzentration nötig. Tschechische Begrifflichkeiten und insbesondere die Namen sorgen manchmal für Verwirrung. Aber auch das die wörtliche Rede hier nur in Gedankenstrichform erkennbar ist und nahtlos in den Erzählton übergeht, trägt besonders zu Beginn nicht dazu bei, dass ich flott vorankomme.
Und eben auch, dass ich manchmal den Kriminalfall vergesse. Doch richtig genial finde ich, dass hier die verschiedensten Charaktere im Vordergrund stehen und wie akribisch Nela Rywiková mich darauf vorbereitet, am Ende zu erkennen, weshalb dieser Mord überhaupt erst passieren musste.
Fazit:
Der Kriminalroman ist nicht immer leicht zu lesen und lenkt oftmals auch vom eigentlichen Fall ab. Dafür stehen im Blickpunkt immer wieder einzelne Schicksale, was den Krimi unglaublich lebendig und mitfühlend macht.
*Das Buch ist überall im Handel erhältlich*
Lesetipp:
Lust auf einen fesselnden historischen Krimi?
Dann empfehle ich euch:
Felix Blom. Der Häftling aus Moabit von Alex Beer
Wow – einfach wow! Das klingt wirklich interessant, weil es genau wegen seiner Eigenheiten mal ein etwas ganz anderes Buch ist, sowas mag ich! Die Thematik finde ich interessant und ob ich damit klarkomme, werde ich mit einer Leseprobe testen, danke für den Hinweis!
Mit zwei Zeitebenen zu arbeiten zeigt, dass sich die Autorin viel dabei gedacht und es sich überhaupt nicht leicht gemacht hat! Ein sicher sehr interessantes Buch und nix für lauschige Abende, sondern etwas, auf das man sich konzentrieren muss. Auch mal gut.
Liebe Grüße, Bea.
Liebe Bea,
es ist wirklich erstaunlich wie gut die Autorin die ganzen Elemente verbunden hat. Ich bin da auch sehr angetan von und bin sehr gespannt, ob das Buch auch bei dir einziehen darf.
Liebe Grüße
Mo
Der Roman klingt wirklich spannend. Finde den Historische Hintergrund und die Tatsache, dass Einblicke in unterschiedliche Gesellschaftsschichten gegeben werden, klingt super interessant. Werde das Buch auch jeden Fall lesen.
Liebe Grüße
Beatriz
Liebe Beatriz,
das freut mich zu hören. Ich bin sehr auf deine Meinung gespannt.
Liebe Grüße
Mo